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Facsimile

4.2. Intertextuelle Bezüge

Der literarische Schaffensprozess der Renaissance und des Frühbarocks beruht auf dem direkten oder indirekten Bezug auf Auctoritas durch Zitate, Imitate, Übersetzungen, Kommentare des vorliegenden Schrifttums. So versucht das Projekt ebenfalls die Bildung des Praetorius, die sich durch Verweise auf theoretische, philosophische, theologische, rhetorische und historische Quellen offenbart, unter dem Aspekt der Wissensbildung und des Wissenstransfers systematischer zu erfassen.

Zu diesem Zweck führt der Index Exempla die in der Quelle identifizierten Zitate auf und trägt dazu bei intertextuelle Beziehungen und Wissenstransfer zu identifizieren. Er liefert bibliographische Angaben zum Bezugstext und führt zum Digitalisat der zitierten Quelle, wenn diese in den Onlinedatenbanken zur Verfügung steht.

Aus methodologischer Sicht unterscheidet das Editionsvorhaben drei verschiedene Zitationstypen: explizite Zitate, implizite Zitate und Paraphrasen. Diese Entlehnungen werden durch verschiedene Symbole in der Quelle kenntlich gemacht.

In seinen Ausführungen zu den gebräuchlichen Zeichen image und image des geraden Taktes erläutert Praetorius, dass im Unterschied zu dem aus zwei Minimae bestehenden alla Semibrevis-Takt, der alla Brevis-Takt sich aus zwei langsamen Semibreven zusammensetzt. Dieser Sachverhalt wird illustriert anhand eines Notenbeispiels (Figur 5), das Praetorius als „des Orlandi Cantione“49 explizit ausweist. Die Zitate dieses Typus wurden systematisch im Rahmen der Editionsarbeit identifiziert, überprüft und durch volle rote Dreiecke gekennzeichnet (siehe Figur 5). Diese geben bibliographische Angaben - hier zu den Sacrae cantiones quinque vocum – und gewähren Zugang zum Digitalisat, falls dieses online vorliegt.


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Figur 5: Praetorius (1619), S. 49.

Im Kapitel über die Ligaturen beteuert Praetorius eingangs, dass er die Regel der Alten nicht einsehe, die besagt, dass die erste Note einer Ligatur eine Longa sei, wenn sie keinen Schwanz habe und die zweite Note niedriger sei50. Bei impliziten Verweisen dieses Typus wurde das Zitat in der Literatur anhand der zur Verfügung stehenden Ressourcen identifiziert, überprüft und anhand von leeren roten Dreiecken kenntlich gemacht: prima carens caudâ, longa est, pendente secundâ. Wie im Fall der expliziten Zitate gewähren auch hier die Dreiecke Zugang zur bibliographischen Notiz. Das Projekt führt dabei die älteste bekannte Quelle des Zitates an – in diesem Fall die fälschlicherweise Jean der Murs zugeschriebene Ars discantus –, da zum jetzigen Stand der Forschung oftmals nicht eindeutig ermittelt werden kann, welche Schriften Praetorius zur Verfügung standen. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei einer späteren Anreicherung der Datenbank die hervortretenden intertextuellen Netzwerke dazu beitragen könnten diese Angaben durch unmittelbarere bibliographische Verweise zu vervollständigen51.

In den sich unmittelbar anschließenden Ausführungen paraphrasiert Praetorius Lippius’ und Hasslers Erklärungen zur Unterteilung verbundener Ligaturen52. Die im Text identifizierten Paraphrasen wurden anhand der zur Verfügung stehenden Ressourcen und der schon im Vorfeld geleisteten Studien untersucht und im Falle einer gelungenen Identifizierung mit einfachen französischen Anführungszeichen kenntlich gemacht: omnes ligaturas intricatas esse se movendas, præter unam hanc semibrevium image, et illarum loco hanc virgulam image usurpandam esse. Wie beim vorherigen Zitationstyp besteht jedoch keine Gewissheit, dass die Paraphasen erschöpfend erfasst werden konnten, teils weil kein äußeres Anzeichen – häufig der Wechsel zur lateinischen Sprache – sie als solche erkennen lässt, teils weil der betreffende Passus, nicht eindeutig im Werk des Autors, auf welchen verwiesen wird – wie hier beispielsweise Hassler – geortet werden kann. Erst bei einer Anreicherung der Datenbank im Rahmen von Folgeprojekten erscheint eine systematischere Identifizierung der impliziten Zitate und Paraphrasen gewährleistet, u.a. durch die Anwendung von informatisch gestützten Suchverfahren53.


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Figur 6: Räumlich-zeitliche Darstellung der im Syntagma Musicum erwähnten Personen.

Die räumlich-zeitliche Visualisierung der Exempla anhand des Geobrowsers54 zeigt, dass die meisten Zitate aus Drucken stammen, die zwischen 1586 und 1619 herausgegeben wurden und zur einen Hälfte im Heiligen römischen Reich und – dies ist bezeichnend – zur anderen Hälfte im italienischen Raum verlegt wurden. Bei den Quellen, die dem Heiligen römischen Reich entstammen halten sich Notendrucke – z.B. die Geistlichen deutschen Lieder des Bartholomäus Gesius – und musiktheoretische Schriften – u.a. Calvisius' Exercitationes musicae – weitgehend die Waage. Bei den italienischen Drucken sind hingegen die musikalischen Werke – u.a. die Sacri operis musici Giuseppe Gallis und Giovanni Battista Fergusios Motetti und Dialogi – weitaus stärker vertreten als die theoretischen Schriften, wie beispielsweise die Seconda parte dell'arte del contraponto des Giovanni Maria Artusis.

So bestätigt die Wahl der Exempla nicht nur die Schlüsse, die Anhand der Auswertung der von Praetorius angeführten Gewährsmänner gezogen werden konnten (siehe 4.1.). Die Ergebnisse verdeutlichen ebenfalls, dass das Syntagma Musicum den Versuch unternimmt die zeitgenössische italienische Musikpraxis zu reflektieren und in Dialog zu bringen mit den musiktheoretischen Traditionen des deutschen Sprachraumes. Mit welcher Betriebsamkeit die Rezeption vonstattengeht, wird u.a. aus dem einleitenden Kommentar zum Zitat eines längeren Passus der heute verschollenen Affettuosi concerti ecclesiastici des Berardi Strozzi deutlich, die Praetorius um 1618 in Wolfenbüttel empfangen haben scheint, zu einem Zeitpunkt an welchem er sich anschickte sein Werk zum Buchdrucker zu übergeben.

Und kömpt mir gleich jetzo, do ich diß Werck dem Buchdrucker ubergebe, aus Italia eine Praefation des Bernhardi Strozzi in tertio libro, Affetuosi Concerti Ecclesiastici, das ist, anmutige Geistliche ConcertGesänge intituliret, gleich als gewünschet zu handen, darinnen er unter andern eben diese meine Meynung approbiret. Und ich dieselbe allhier mit einzusetzen, nicht undienlich erachtet habe. 55
49 Praetorius (1619), S. 49.
50 Praetorius (1619), S. 29.
51 So könnte ein größeres, dem deutschen musiktheoretischen Korpus, gewidmete Projekt, ebenfalls dazu beitragen die Bibliotheken der Theoretiker zumindest fragmentarisch zu rekonstruieren.
52 Praetorius (1619), S. 29.
53 Siehe beispielsweise das Projekt e-traces zur Zitationsanalyse. Online: http://etraces.e-humanities.net/ [abgerufen am 12.04.2015].
54 Der Zugang zum Geobrowser erfolgt über den Link „Exempla“ im limken unteren Fenster.
55 Praetorius (1619), S. 147 [127].

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